Holly wollte am liebsten im Boden versinken, so peinlich war das. Der Besen war jedenfalls keine Hilfe, um sich dahinter zu verstecken. Die Jugendliche war für ihr Alter etwas größer als der Durchschnitt. Anders als die meisten 16-Jährige Mädchen in dieser Stadt besaß Holly außerdem besondere Kräfte. In dieser Situation nützten sie ihr aber einmal mehr überhaupt nichts. Das Einzige, was sie mit ihren Kräften hätte tun können, wäre gewesen, ihn weg zu spülen. Mit dem schmutzigen Wasser aus dem Putzeimer...
Doch der Reihe nach. Der Tag begann für Holly im Mädchen-Wohnheim - so wie eigentlich jeder Tag.
Sie quälte sich aus dem Bett und schnappte sich ein Handtuch. Was sie jetzt brauchte, war eine schöne kalte Dusche. Es gab nur eine Gemeinschaftsdusche pro Stockwerk, also musste sie ihr Zimmer verlassen. Als sie heraus auf den Gang trat, war dort noch nicht viel Betrieb. Die Dusche selbst verlief friedlich, da Holly den ganzen Raum für sich hatte. Zu friedlich, um genau zu sein. Normalerweise waren um die Uhrzeit auch schon ein paar Mitbewohnerinnen hier. Sie legte nichts ahnend ihr Handtuch um und summte vor sich hin. Der Ärger begann, als sie wieder auf den Gang lief. Ihr linker Fuß berührte nicht den gewohnten Teppichboden, sondern eine andere Art Stoff. Viel weicher und seltsamerweise gewohnt angenehm. Als sie vor sich herunterblickte, was das wohl war, erkannte sie ihren Lieblingspullover. Wie um alles in der Welt kam der jetzt hierher? Sie war mit dem Schlafanzug zur Dusche gegangen und hatte ihn anschließend dort in den Wäschekorb verfrachtet. Ihren besten Pullover hatte sie zuletzt nicht getragen, denn es war Sommer. Als Holly wieder aufblickte, fuhr ihr ein Schreck durch die Glieder. Ihr ganzer Kleiderschrank-Inhalt war auf dem Gang verteilt worden!
„Wer war das??“ brüllte Holly.
Niemand meldete sich, das Gelächter aus Hollys Zimmer verriet die Übeltäterinnen dennoch.
Vor Wut schnaubend, die Haare vor Nässe tropfend, stapfte Holly den Gang entlang. Unterwegs pflückte sie mit einer Hand ihre Kleidungsstücke wieder auf, mit der anderen hielt sie das Handtuch fest.
In ihrem Zimmer angekommen erblickte Holly die Visage von Larissa. Natürlich mit der Clique im Schlepptau. Larissa war diese Art von Person, der alle hinterher liefen, obwohl sie nichts außer gemein war.
„Tut mir Leid ey, ich brauche auch etwas Platz im Schrank. Hab mal ein paar alte Lappen entsorgt, die bestimmt niemand mehr anziehen will.“ gab sich Larissa bewusst unschuldig.
„Wofür brauchst du Platz in MEINEM Schrank?“ wollte Holly wissen.
„Damit du es weißt, das war nicht MEINE Entscheidung.“ kam es schnippisch von Larissa zurück.
„Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist!“ ahnte Holly schon Böses.
„Ey, glaubst du, mir gefällt das? Schau doch da.“ deutete Larissa auf das Namensschild draußen vor der Tür.
Larissas Clique hatte sich dort versammelt und verhielt sich ein wenig so, als müssten sie ihre Anführerin gleich in die Hölle verabschieden. Für wen das hier welche Art von Hölle wurde, würde sich noch zeigen. Da standen ihre beiden Namen auf dem Namensschild. Zimmer 3, Holly - Larissa. Die Art der Schrift und des Drucks waren zu echt und zu professionell - Larissa konnte das Schild niemals gefälscht haben, um eine Ausrede für die Schrankräumung zu haben. Apropos Schrankräumung.
„Deswegen musst du noch lange nicht meine Klamotten auf dem Gang verteilen! Der Pulli war teuer!“ fauchte Holly.
„Boah echt ey, wer zieht denn so einen Wischmop an? Oder bezahlt Geld für sowas? Das ist voll die peinliche Modesünde.“ kam es als Begründung von Larissa.
Das hätte sie lieber nicht gesagt.
„Wie du meinst, dann spüle ich deine Modesünden jetzt den Abfluss runter!“ drohte Holly.
Da fiel Larissa wieder ein, dass Holly besondere Kräfte besaß und diese Drohung nur zu leicht wahr machen konnte. Doch es war zu spät. Holly machte bereits ernst.
Eine raumhohe Flutwelle schwappte vom Duschraum her den Gang entlang. Sie nahm alles mit, was nicht fest angeschraubt war. Nicht nur Larissas Klamotten. Aber schon auch Larissas Klamotten.
„Meine ganze New Vita Collection! Die ist exklusiv du Freak!“ empörte sich Larissa.
Da schwang tatsächlich Trauer in ihrer Stimme mit. Kaum zu glauben, aber wenigstens für Mode schien sie so etwas wie Gefühle zu haben. Doch weder Holly noch Larissa blieb besonders viel Zeit, weiter über die Situation zu streiten.
„Holly, Larissa! In mein Büro, sofort!“ hallte die Stimme der Wohnheims-Betreuerin durch den tropfenden Korridor.
Zur Strafe war Holly nun in die peinliche Situation geraten, vor der Sonnenwache putzen zu müssen.
Wenigstens ein wenig Grund zur Genugtuung gab es für die 16-Jährige schon. Denn ihre gleichaltrige neue Zimmergenossin war auch bestraft worden und musste die Wäsche waschen. Da war sie aber immerhin sicher vor den Blicken des Schwarms aller Mädchen: Leo.
Leo war gerade im Begriff, die Sonnenwache zu betreten. Dabei sah er Holly unweigerlich im schmutzigen Putz-Outfit mit verdreckter Putz-Frisur putzen. Der Besen gab kein gutes Versteck ab und ihre besonderen Kräfte konnten ihn nicht vergessen lassen, dass er sie gesehen hatte. Schlimmer noch, zu allem Überfluss kam er direkt auf sie zu!