Teil 1: Schrecken in der Nacht

"Waaah!!"
Lasdan fand sich schweißgebaded in seinem provisorischen Bett aus Stroh liegen. Seine Wolldecke hatte er im Schlaf abgewimmelt, doch das hatte ihn nicht besonders abgekühlt.
Lediglich ein eisiger Luftzug, welcher durch die Ritzen zwischen den Holzdielen dieser elendigen Bretterbude wehte, schien ihn daran zu hindern, innerlich zu verglühen.
Ihm wäre nicht eingefallen, Ritter Darian dankbar dafür zu sein, ihn diese Winternacht im Heuschuppen verbringen zu lassen. Bevor er eingeschlafen war, hatte Lasdan seinem Herrn deshalb innerlich die abscheulichsten Flüche aufgehetzt.
Hätte er auch nur den Anfang von Einem tatsächlich losgelassen, wäre es wohl noch übler gekommen. Der Ritter nahm das penibelst genau und obendrein höchstpersönlich. So wie eigentlich alles, fragte man Lasdan.
Doch dieser Mann war an diesen Tagen noch bei Weitem sein geringstes Problem. Das Andere war, er fragte sich in den letzten Nächten, ob er langsam völlig verrückt wurde. Konnte man einen Traum mehrmals oder sogar jedes Mal träumen? Als er noch ein kleiner Junge gewesen war hatte es das jedenfalls nicht gegeben. Ja, ihm waren ständig die Bilder der Toten, die von der Schlacht heim gebracht wurden, in seinen Nachtmahren begegnet...

Teil 2: Feuer

Aber immer wenn der Knappe aus diesen Horrortrips endlich aufgewacht war, so konnte er sich wenigstens sicher sein, dass es vorbei war.
"Nein, warte... Das stimmt nicht..." murmelte er vor sich hin.
In diesem Moment erinnerte er sich wieder DARAN. Ihm brach erneut der Schweiß aus und lief ihm in die Augen. Das brennen der salzigen Flüssigkeit bemerkte er gar nicht, viel schlimmer war, sie half kein bisschen. Lasdan war von einem Moment auf den Anderen so heiß, dass er glaubte, mit seinem gesamten Körper in loderndem Feuer zu stehen.
"Aaaaah! Was ist das??" brüllte er, während er aufsprang und zur Tür rannte, in der Hoffnung, dort mehr von der Winterkälte abzubekommen.
"LASS...MIIICH... RAAAUS!!!"
Darian konnte das nicht überhört haben. Der schlief nämlich nicht wirklich tief und hatte das Gehör eines Luchses. Und das Fenster seines Schlafgemachs lag ein paar Schritte vor der Tür. Tatsächlich dauerte es nicht lang, bis die Reaktion folgte. Leise, aber gerade laut genug und in einem belehrenden Ton:
"Du musst noch eine Weile darüber nachdenken, wieso ich dich hinein geworfen habe. Sei dankbar für die warme Decke. Soll mir keiner nachsagen, ich ließe meine Knappen erfrieren."
"Aber ich brenne...!" stöhnte Lasdan noch, dann verschwomm ihm die Welt vor Augen und er kippte um.

Teil 3: Schneller als je zuvor

Darian wusste, dass er dem Pferd zu viel abverlange. Noch nie, nicht einmal in einer Schlacht, war er mit einem Tempo geritten, welches das Tier kaum viel länger durchhalten konnte. Sein Vater hatte ihm eingebläut, das Leben seines Pferdes nur in der äußersten Notlage aufs Spiel zu setzen. Diese Nacht war eine solche Lage.
"Gordon, weshalb nur nahmst du dich dieses Jungen an? Nichts als Unheil steckt in ihm, er ist ein Tunichtgut und hat nichts besseres im Sinn, als mir fortwährend zu widersprechen. Und nun das! Es könnte mich mein Ansehen kosten! Aber ich kenne dich. Du würdest mich nur auslachen und mir vor Augen führen, dass es ohnehin kaum der Rede wert ist. Aber schon dafür musste ich mir öfter die absurden, dekadenten Hirngespinste der hochwohlgeborenen Fratzen gefallen lassen, als mir lieb ist. Lass dir Eines gesagt sein, Gordon. Ich tue all das nur, weil es dein letzter Wille gewesen ist." dachte er bei sich.
Endlich kam der Ritter vor den eisernen Toren des Kirchhofs an. Lasdans Kopf war bereits blutrot, sein Körper über und über mit Schweiß bedeckt. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr.
"Öffnet eure Pforten! Dieser Junge wird sterben!"
Lauter konnte er nicht schreien. Es zeigte Wirkung, eine weiße Fackel näherte sich. Viel zu langsam.
"So macht doch! Weckt den Priester, wir brauchen die Hilfe eines Engels!" hörte er sich in ihre Richtung bellen.
Endlich zogen sie ihr Gangtempo an. Dann trat ein niederer Söldner der Nachtwache hinter das Gittertor.
"Wer seid ihr denn, dass ihr eine solche Bitte stellt? Und zu dieser Stunde." wollte er seelenruhig wissen.
"Ich bin Ritter Darian von der Festung der Stadt Kennelberg und nun genug davon, macht was ich euch sage! Der Priester, schnell!!"
"Dieser Aufzug ist wohl kaum eines Ritters angemessen. Jeder Mann auf einem Pferd kann behaupten, er sei ein Ritter." erdreistet eine der anderen Wachen sich, zu kommentieren.
Darian war nicht dazu gekommen, sich umzuziehen. Das Nachthemd kam ihm furchtbar dünn vor und an seinem Rücken spürte er nun die Kälte. Vorne war der Junge, von ihm strömte eine gar unwirkliche, glühende Hitze aus.
Sein Ross begann zu zittern, es war am Ende. Eilig schwang er sich vom Sattel und zog den Jungen zu sich, dann brach das stattliche Tier in sich zusammen.
Ein letzter Atemhauch kristallisierte an der eisigen Nachtluft, dann blieb es kurz still.
Der Ritter zog seinen Waffengürtel aus der Satteltasche, dann das Schwert aus seiner Hülle.
Die polierte Rüstung mochte er nicht angelegt haben, doch von diesem meisterhafen Stück Eisen trennte man ihn nur über seine Leiche. Er würde ihnen gleich zeigen, dass Kleidung allein noch keine Leute machte.
"Was, wenn ich doch ein Ritter bin und euch in meinem Zorn über den Tod meines Knappen verbannen lasse, wenn ihr nicht sofort tut, was ich von euch will?" drohte er ihnen.
Ein Glück, diese Männer waren wirklich nur einfache Soldaten. Ihr Schweigen oder ihre Worte, alles verriet ihm, dass sie auf ihre Bezahlung angewiesen waren und nicht vorhatten, es darauf ankommen zu lassen.
"Einer von euch holt den Priester, ihr anderen helft mir tragen!" befahl der Ritter also.
Endlich schwang das Tor laut quietschend auf und man leistete seinen Worten folge.
"Ein wenig nutzt einem das Ansehen eines Ritters bisweilen schon, Gordon..." murmelte Darian vor sich hin.

Teil 4: Wir flehen dich an

Als Darian und die drei Wachen den erhitzten Jungen schwer außer Atem auf einem der feinen Teppiche ablegten, eilte auch schon der vorausgeschickte Mann mit dem Geistlichen heran.
"Was hat euer Knappe?" verlor er zu Darians großer Erleichterung keine Zeit mit den Formalitäten.
"Seht ihn euch an, fühlt die Hitze, welche von ihm ausgeht. Dies ist kein gewöhnliches Fieber."
Der Priester, man nannte sie hier auch 'Engelsbote', war ein mittelgroßer Mann gehobenen Alters, wenn auch im Vergleich zu anderen Männern seines Standes noch recht jung. Trotz der erheblichen Dringlichkeit in dieser Situation war es ihm gelungen, die rautenförmige Kopfbedeckung und den prachtvollen goldenen Umhang anzulegen. Darian zeigte dies, dass man sein Anliegen ernst nahm - kein Engel würde sich herablassen, wenn ihn irgendwer im Nachthemd rufen würde. Dem Boten reichten ein kritischer Blick und eine Hand auf Lasdans Stirn, um den Ernst der Lage zu begreifen.
"Legt ihn auf das Samtbett in der Mitte." gebot er und streckte seinen Arm in die Richtung aus, wo besagtes Bett zu finden war.
Die Kirchen waren so wohnlich und luxuriös ausgestattet, wie es der Stadt oder Gemeinde möglich war, um den Geschöpfen des Himmels einen ehrenwerten Empfang zu bieten. Nicht selten steuerten die Könige oder Adeligen ihren Anteil dazu bei oder wurden bisweilen horrende Kirchensteuern erhoben.
Während man den Worten unmittelbar Folge leistete und Lasdan in die Kirche beförderte, gab es einige strenge Worte für Darian:
"Zunächst ist Eile unser oberstes Gebot, doch im Anschluss müsst ihr mir einiges erklären, Herr Ritter."
"Ich verstehe, ehrenwerter Bote. Ich danke euch." lenkte Darian sofort ein und verbeugte sich.
"Nun denn, kniet nieder und legt die Waffen ab, denn dies wird keine Segnung dieser barbarischen Werkzeuge." ordnete der Bote an.
Es geschah, wie er verlangt hatte. Schließlich kniete er sich selbst und begann, das Ritual zu zelebrieren, mit dem man einen Engel bat, auf die Erde herunter zu kommen.
"Doria Mahina, wir flehen dich an. Gedenke in dieser Nacht dem heiligen Vertrag, den du mit uns, der Kirche von Kennelberg, einst geschlossen hast. Gedenke unserer Ehrerbietung und erfreue dich unserer Dankbarkeit, die dich erwartet. Wir flehen dich darum an, komm hernieder in diese geweihte Halle und hilf uns in unserer großen Not. Schenke uns deine wertvolle Zeit, gib uns nur einen kostbaren Augenblick deiner Güte für diesen jungen Mann, den ein Feuer in seinem Inneren unendlich quält. Verzeih, dass wir nicht zahlreicher erscheinen können, erkenne dies als ein Zeichen unserer höchsten Not. Erhöre uns, Doria Mahina. Höre dieses Lied. Heile diesen Jungen."
Nachdem seine Ansprache verhallt war, zündete er ein Gefäß mit Weihrauch an und verteilte den Duft im Rhythmus einer Hymne, die er zunächst nur flüsterte, um Lasdan herum. In Darian löste der Geruch einige verhasste Erinnerungen wieder aus ihrer Verborgenheit, doch er gab sich Mühe, das zu unterdrücken. Als der Priester lauter wurde und der Sprechgesang immer mehr zu einem richtigen Lied avancierte, erkannte der Ritter, dass es dasselbe war wie einst. Die schaurigen Erinnerungen wurden nur noch lebendiger.
Engel liebten schönen Gesang und tiefgründige Melodien. Da sich keine Instrumente beteiligen konnten, stimmte Darian ungefragt mit ein. Er hatte diese Notenfolge nur ein einziges Mal gehört. In der traurigsten Stunde seines Lebens, die gleichzeitig die Glücklichste war. Denn damals war er Ritter geworden, wie sein Vater und wie er es sich schon immer gewünscht hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er einen Engel erblicken dürfen, jedoch... war dies jetzt zweitrangig. Die Hymne war damals für immer sein Gedächtnis gebrannt worden und es konnte nicht schaden, eine zweite Stimmebene hinzuzufügen.
Aus dieser und einigen anderen Erfahrungen konnte er auch ableiten, dass, sollte Doria Mahina dem Ruf folgen, sich dies schon längst hätte bemerkbar machen müssen. Nein, mehr Stimmen konnten nicht schaden. Schließlich war die Hymne zu Ende, aber noch immer tat sich nichts.
Doch da!
In der prächtig verzierten Kuppel des hohen, weitläufigen Kirchengebäudes zeichnete sich ein gleißend heller Lichtschimmer ab. Eine einzelne Feder löste sich und fiel langsam zu Boden, begleitet von den gebannten Blicken der Anwesenden. Es herrschte nun völlige Stille, nur die tiefen Atemzüge waren zu hören.
Schwung für Schwung schwebte sie - es musste eine Flügelspitze sein - tiefer.
Als sie auf Lasdans Stirn gelandet war, hoben sich die Köpfe wieder, gebannt auf den kleinen Kreis aus Licht starrend, von wo die Engelsfeder gekommen war.
Sollte dies alle Gnade gewesen sein, welche die Engel für Darians Knappen übrig hatten? Hatte der Priester gar womöglich die falsche Hymne gewählt?
Plötzlich schwoll das Schimmern schlagartig an und blendete alle. Darian spürte einen Luftzug, hörte das Schlagen eines Paares von Flügeln. Als er wieder sehen konnte, kniete da ein junges Mädchen mit langen hellblonden Haaren bei Lasdan, kaum älter oder jünger als er. Seinen hochroten Kopf hatte es auf ihre Beine gebettet, die Flügel um ihn geschwungen.
Darian war schon öfter der Erscheinung eines Engels beigewohnt, seine Reaktion etwas gefasster als die der Wachen. Dennoch gab er ungern zu: der Anblick war jedes Mal aufs Neue faszinierend. Sie waren einfach keine Menschen. Doch nicht nur das. Dieses Mädchen war zwar zweifelsohne ein Engel wie aus den alten Legenden. Nur war das nicht Doria Mahina.

"Geh nicht fort!" weinte Lasdan.
Wegen all der Tränen sah er nur noch verschwommene Umrisse. Er wischte sich das lästige Augenwasser und die Rotze aus seinem Gesicht. Jetzt erkannte der Junge, dass auch sein Bruder weinte. Draußen war es bereits dunkel, man konnte es fast nicht sehen. Der breitschultrige Mann hatte seine Hand fest im Griff. Lasdan wischte seinen Handrücken an dessen Hosenbein ab. Er verabscheute ihn, traute sich aber nicht, den Mund aufzumachen. Sein zotteliger Vollbart und die tiefen Furchen in seinem Gesicht schüchterten ihn ein. Aber irgendetwas musste er doch tun...
"Lasdan, auf dein Zimmer! Du solltest im Bett sein!" herrschte ihn sein Vater an.
"Diesem Kind könnte ich auch noch Manieren beibringen." polterte der nächtliche Besucher, sichtlich unangetan vom Glibber auf seiner Kleidung.
"Nein! Er ist doch noch viel zu jung!" heulte die Mutter.
So verzweifelt hatte Lasdan sie noch nie zuvor erlebt. Sie saß am Boden und streckte ihren jüngeren Sohn ihre Arme aus. Der fiel auf ihren Schoß, woraufhin sie ihn fast erdrückte.
"Alles gut, Lasdan. Gend wird es bei Faror besser gehen als bei uns und wir brauchen... wir brauchen es... für euch..." wimmerte sie.
"Hier sind eintausend, wie vereinbart."
Lasdan hörte einen Sack voll Münzen auf den Boden fallen und blickte auf. Der Mann mit seinem großen Bruder an der Hand drehte sich ohne weitere Worte um. Er lachte oder grinste nicht. Und doch meinte der kleine Junge, in seinem Gesicht diese unsägliche Genugtuung zu sehen. Einen Anflug von Freude.
"Geeeeend!" schrie er und petzte seine Augen fest zusammen, um die Tränen zu unterdrücken.
Als er sie wieder öffnete, blicke er in purpurne Augen. Sein Kopf fühlte sich leichter an.
"Wer ist Gend?" wollte eine weiche Mädchenstimme wissen.
"Mein großer Bruder..." antwortete Lasdan ihr wie von selbst.
"Faror hat gelogen, er hat Gend genommen und... und Ruth!" kam es aus ihm heraus.
Ruth, wie hatte er sie vergessen können? Gends beste Freundin und auch ein bisschen Seine, wie konnte er sie nur vergessen? Aber, wie war er denn eben wieder darauf gekommen...? Da war noch etwas, das ihm entfallen war, er spürte es. Ruth war dabei gewesen und auch Miria, seine beste Freundin.
"Er versprach mir, ich könne meinen Bruder wiedersehen und dann war da auch Ruth und dann..." platzte er hervor, doch dann bekam er einen Finger auf die Lippen gelegt und stoppte.
Der Engel legte die Hände an Lasdans Schläfen.
"Du darfst es vergessen, Lasdan." beruhigte ihn das Geschöpf aus dem Himmel.
"Wie, aber ich, nein!" versuchte er sich zu wehren, als er bemerke, dass die Bilder vor seinen Augen verblassten. Ihm ihre Namen entglitten.
"Lass los..." flüsterte sie.

Teil 5: Das Feuer in Lasdan